Read Frame Type Film – Ein Gespräch mit Philippe Millot
Ein Raum voller Ideen
Ich betrete den Raum – Philippe Millot arbeitet. Ich frage, ob ich ihm ein paar Fragen zu dem Buch stellen darf, das heute gedruckt wird. Er ist der „Designer“.
Philippe beginnt: „Ich weiß nicht, ob das zu deinen Fragen gehört, aber … die Form, die ich dem Buch gegeben habe …“
Ich unterbreche ihn: „Du meinst das Design?“
Er antwortet: „So nenne ich es nicht gerne.“
Ich verstehe: Es geht Philippe nicht ums Gestalten. Es geht ihm ums Schaffen. Nicht um das Buch an sich, sondern um die Idee, die zu etwas wurde.
Read Frame Type Film war am Anfang gar nicht zu einem Buch bestimmt. Read Frame Type Film begann als Seminar.
Vom Seminar zum Buch
Beginnen wir beim Anfang...
Enrico Camporesi und Catherine de Smet hatten die Idee eines Seminars für Studenten. Thema: Typografie im Film – anhand von Archivmaterial aus dem Centre Pompidou.
Catherine, die Philippe als Typo-Experten kannte (an dieser Stelle wird er vermutlich sagen: „Zumindest nennen sie mich so“), lud ihn ein. Seine lebensbejahende Art ließ ihn sofort zustimmen.
Im Seminar ging es darum, Filme aus typografischer Perspektive zu analysieren: Was ist Text auf der Leinwand, und wie verändert er sich?
Und immer wieder kam Enrico, Chaterine und Philippe der Gedanke: „Das müsste eigentlich ein Buch sein.“
Sie diskutierten, tauschten sich aus – und Philippe begann zu skizzieren.
Irgendwann war klar: Es wird ein Buch. Aber zwischen Idee und Verwirklichung liegt – wie Philippe sagt – nicht nur „das Meer“, sondern auch: ein Verlag.
Die Geburt von MUBI Editions
Enrico war bereits mit Davide Cazzaro, dem Publishing Director bei MUBI, in Kontakt.
Ursprünglich sollte ein Artikel für MUBI’s Notebook entstehen – Thema auch hier: Film & Typografie.
Der Artikel kam – aber das Projekt wuchs weiter. Die Drei fragten Davide, ob MUBI sich vorstellen könne, ihr Buch zu veröffentlichen.
Davide bat um Bedenkzeit – MUBI war eine Streamingplattform, eine Produktionsfirma, ein Distributor, ein Magazin-Verlag – aber kein Buchverlag. Noch nicht.
Doch der Wunsch war da.
Und so wurde Read Frame Type Film das allererste Buch von MUBI Editions.
Nur sechs Monate später ist Philippe hier bei uns in Bozen – und das Buch wird gedruckt.
Ein rechteckiger Licht-Raum
Philippes erste Skizze zeigte Text ungewöhnlich platziert. Diese „seltsame“ Positionierung ließ in der Mitte einen leeren Raum, eine weiße Fläche entstehen: ein Rechteck. Die Leinwand. Der Ort, an dem der Film erscheint.
Leer ist genau genommen falsch. In der Druckwelt heißt Weiß keine Farbe. Im Film ist Weiß das Ergebnis aller Farben gleichzeitig. Es ist Licht.
Dies wird in der Gestaltung des Buches zum Prinzip:
Alles, was zum Film gehört (Titel, Bilder, etc.), bleibt im Rechteck.
Alles, was außerhalb passiert (Gedanken, Kommentare), bleibt draußen.
Manche Seiten bestehen nur aus “externen” Informationen – das Rechteck bleibt leer. Oder besser gesagt: voller Licht.
Geplant war es ursprünglich 40 Filme zu analysieren und diskutieren. Am Ende wurden 24 – eine Zahl, die besonders in diesem Kontext etwas bedeutet: 24 Frames pro Sekunde.
Form folgt Inhalt – und umgekehrt
Das Design spiegelt den Kern: schwarzer Rahmen, weißes Rechteck in der Mitte, außen der Titel.
Ich frage Philippe, warum die Typo auf dem Cover so „einfach“ ist (für mein Empfinden).
Er erklärt: die Typografie ist hier nicht das Zentrum. Sie soll Raum schaffen – den Raum der Leinwand.
Philippe spricht voller Leidenschaft über Typografie. Für ihn sind Buchstaben keine Symbole, sondern Objekte, die Raum formen.
„Worte kann man besitzen, benutzen. Sie haben eine physische Präsenz.“
Für seine Studierenden bringt er es so auf den Punkt: „Das Wort cheval (frz. Pferd) steht still. Es hat keine Beine. Wenn ich cheval galope sage – das Pferd galoppiert –, dann bewegen sich die Worte. Galope verschafft dem Pferd Beine.“
Typografie bedeutet für ihn: Worte formen. Eine Geschichte erschaffen.
Schriften sind Charaktere. Für dieses Buch braucht es keine Flut an Fonts.
Ein Bodoni oder Didot genügt: lesbar, elegant, abstrakt und klar zugleich. Ein Didot welche durch einzelne Einsätze von Franklin Gothic unterstrichen wird – das reicht.
Der letzte Step: Druck & Reflexion
Der Moment des Drucks ist für Philippe bittersüß: Es ist der Moment in dem Material, Licht und Farbe die Idee treffen, die du erschaffen hast – sie werden eins.
Und genau dann merkt man was man hätte anders machen können...
Doch zum Glück gibt es dafür keine Zeit: Jetzt ist Fokus gefragt, man muss sich auf andere Dinge konzentrieren, wenn die Druckbögen aus der Maschine kommen, denn Fehler können immer noch passieren.
Philippe erinnert sich an Andrea Palladio und seine Einleitung zu Die vier Bücher zur Architektur: „Schönheit entsteht aus der Form und dem Einklang des Ganzen in Bezug auf seine einzelnen Teile, aus dem Verhältnis der Teile zueinander und dieser wiederum zum Ganzen, sodass die Struktur als ein vollständiger und geschlossener Körper erscheint, in dem jedes Element mit dem anderen harmoniert – und alle gemeinsam notwendig sind, um das zu erschaffen, was beabsichtigt ist.“
Philippe glaubt: Jedes Buch braucht einen eigenen Charakter. Die Form entsteht aus dem Kontext, wächst und verändert manchmal sogar die Situation.
Der Betrachter (welcher dem Leser vorhergeht – denn ein Buch soll zuerst auf visuelle und haptische Weise verstanden werden) sollte instinktiv die Essenz des Buches begreifen.
„Ein Buch sollte sich so natürlich wie möglich anfühlen. So ungezwungen wie möglich.“
Reproduktion oder Kreation?
Philippe erzählt von Picasso, der bei einer Druckabnahme eines Buchs seiner Werke war. Picasso war verwirrt, als der Drucker ihn fragte, ob die Farben "gut" seinen.
Picasso sagte: „Klar sind die gut. Aber sie sehen nicht aus wie meine Bilder - das habe ich nicht gemalt.“
Reproduktion war ihm egal.
„Man muss etwas Neues schaffen.“
Philippe sammelt kleine Dinge – Fotos, gepresste Blätter und anderes. Er legt sie manchmal heimlich in Bibliotheksbücher. Dadurch wird jedes Exemplar einzigartig. Der Leser fragt sich: Gehört das da rein? War das Absicht? Und was bedeutet es?
Auch Read Frame Type Film beinhaltet diesen Überraschungseffekt: Zwölf kleine Karten mit 24 Bildern liegen zufällig angeordnet zwischen den Seiten. So ist jede Ausgabe leicht anders. Und es gibt eine kleine Überraschung für den Betrachter.
Philippe betont: „Wir müssen uns mit etwas an jemanden wenden. Wir werden etwas erfinden – etwas, das eigentlich schon da ist. Oder anders gesagt: Wir werden etwas entdecken, etwas, das bloß verdeckt war.“
Ein Buch, das ein neues Buch inspirieren soll
Philippe hofft, dass dieses Buch neue Ideen entfacht – so wie es selbst aus einer Idee entstanden ist. Ein Funke für weitere Gedanken, neue Perspektiven.